In den zwanzig Jahren, die ich als Seminarleiter und Coach für Mensch-Pferd-Beziehungen arbeite, habe ich festgestellt, dass die menschliche Wahrnehmung von Pferden ganz schön auseinanderklafft. Auf der einen (extremen) Seite steht die Fraktion der Reiter, die Pferde für hunderte Kilo schwere Dummsäcke halten (alternativ: Monster), die nur die Sprache scharfer Kandaren und schmerzender Sporen verstehen. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen diejenigen, die Pferde als die „besseren Menschen“ vergöttern, die wie Kinder verhätschelt oder wie Mann oder Frau geliebt werden wollen. Und dazwischen stehen die Pferde und müssen all das ertragen.
Pferde dienen uns Menschen als willkommene Projektionsflächen, wie das die Psychologie nennt. Das heißt: Pferde werden von uns Menschen (unbewusst) oft dazu missbraucht, all das auf sie abzuladen oder all das in sie hinein zu phantasieren, was wir selbst fürchten oder im tiefen Inneren ersehnen – was wir uns aber nicht trauen, zu leben. Und erst recht: Das nicht zuzugeben.
Dabei wäre es so einfach, Pferde zu verstehen, wenn wir sie von ihrer „Natur“ her betrachteten. Von Natur aus sind Pferde gleichermaßen robust und – hochsensibel. Und zwar immer „sowohl…, als auch…“ – und nicht: entweder, oder. Robust sind sie, weil sie als Art seit Millionen Jahren unter unwirtlichen Verhältnissen nicht nur überlebt, sondern sich sogar entwickelt haben. Und hochsensibel sind sie aus dem gleichen Grund: Weil sie – trotz Bedrohung durch uns Menschen und andere Jäger – seit über 6000 Jahren auch als Haustiere überlebt haben. Denn ihr hochfeines Gespür hilft ihnen seit jeher, sich vor Gefahren zu schützen – sie zu erkennen, sie zu meiden oder erstmal genügend Ausweichabstand herzustellen, wenn die Sache nicht eindeutig ist.
Pferdische Robustheit verwechseln derbe Menschen deshalb kurioserweise mit Dummheit; und pferdische Feinheit lässt empfindsame Menschen in ihnen bisweilen „höhere Wesen“ vermuten – und möglicherweise nur, weil diese Menschen beider Extreme nur Angst vor ihren eigenen, tieferen Empfindungen haben. Die einen wollen ihre Empfindungen mit der Kandare im Zaum halten (oder gar mit Sporen abtöten); die anderen phantasieren sich in ungeahnte Höhen hinauf, aus der leicht der Absturz droht, wenn das derart missverstandene Pferd plötzlich „mit Zähnen und Klauen“ die Führung übernimmt.
Pferde können weder Gedanken lesen noch stellen sie sich „dumm an“. Allerdings ist ihre Fähigkeit, beispielsweise die Körpersprache anderer Arten zu lesen, bestens ausgeprägt, einfach weil es ihr Überleben sichert. Da Körpersprache Gedanken und Gefühle sichtbar macht, können naive menschliche Naturen glauben, Pferde könnten ihre Gedanken lesen. Nein, es sind kleinste, vom Menschen selbst meist gar nicht wahrgenommene, körpersprachliche Zeichen, die Pferde „lesen“ können.
Auf der anderen Seite erleben Pferde jedoch tausendfach, dass Menschen sie nicht verstehen, ja dass sie sogar bestraft werden für Verhalten, das Menschen (oft, ohne es selbst zu wissen) von ihnen gefordert haben. Da wundert es nicht, wenn Pferde „auf stur“ schalten – einfach nur, um zu überleben. So gesehen, handelt es sich wieder um nichts anderes als um einen weiteren, erzwungenen Entwicklungsschritt auf ihrer pferdischen Evolutions-Leiter, an dessen unterem Ende mancher Sport- oder Freizeitreiter steht – und möglicherweise blöd nach oben guckt.
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